Nashorn

Nashorn, 150 x 300 cm, Pigmente auf Leinwand, 2023

"Das Nashorn, geboren in meinem Atelier, stellt sich als geschundene Kreatur dar und steht in einer auseinanderdriftenden Welt. Das Bild ist eine Anklage an die Kriegstreiber unserer Zeit." – Reimund Kasper



Reimund Kaspers "Nashorn". Politisch-ökologische, kunsthistorische und zeitgeschichtliche Aspekte

Die großformatige Abeit "Nashorn" ist ein herausragendes Werk des Künstlers Reimund Kasper. Über die unmittelbaren sinnlich-ästhetischen Erfahrungen hinaus, die sich ob der beeindruckenden Größe und Kolosalität des Rhinozeros und der farbenreichen Gestaltung der Bildelemente beim Betrachter einstellen, ist Kaspers Werk aus politisch-ökologischen, kunsthistorischen und zeitgeschichtlichen Gründen imposant.

Kaspers Nashorn ist bei genauerer Betrachtung ein leidendes Tier. Die vereinnahmenden Augen sind ein Manifest der Traurigkeit und Melancholie. Der Kopf und der massive Körper sind mit zahlreichen frischen, aber auch älteren Verletzungen überseht, die mit Verbandsmaterial behandelt wurden. Das Riesenross gleicht einem Langzeitpatienten. Insbesondere das durch Mullbinden fixierte, blutende Horn und die rot gefärbte Erde, auf der das Nashorn steht, verweisen auf die Wilderei und Ausbeutung der großen Landsäugetiere sowie auf die Folgen anthropogener Einwirkungen auf das natürliche Ökosystem. Aufgrund des anhaltenden Wildereidrucks ist das Nashorn vom Aussterben bedroht. Das Tier fällt der menschlichen Gier zum Opfer. Zugleich ist das Nashorn ein Opfer der menschlichen Neugier und Lust am Exotischen.



1492 begann mit Christoph Kolumbus' Entdeckung Amerikas in Europa das Zeitalter der Entdeckungen und Eroberungen. Die Seefahrt ermöglichte auch den Transport eines Nashorns: Am 20. Mai 1515 wird ein Panzernashorn aus Indien in den Turm am Hafen von Lissabons Vorort Belém gebracht und als erstes lebendes Nashorn in Europa in die Geschichte eingehen. Dom Manuel, der damalige König von Portugal, ließ das exotische Säugetier nur wenige Tage nach seiner Ankunft in einem Kampf gegen einen Elefanten antreten, der vor dem gehörnten Konkurrenten schnell die Flucht ergriff. Das neuartige Tier war Gesprächsstoff über die Grenzen Portugals hinaus. Eine Skizze samt Beschreibung dieses indischen Rhinozeros gelangte nach Nürnberg und in die Hände des deutschen Malers Albrecht Dürer, der nach dieser Erstzeichnung seinen berühmten Kupferstich namens Rhinocerus anfertigte – und ein Phantasietier konstruierte, das er realiter nie gesehen hatte. Kasper steht in der Tradition der Nashorn-Rezeption in der Kunstgeschichte und adaptiert das Tier in die heutige Zeit.

Kaspers Nashorn ist ebenso wie das vor Schmerzen wiehernde Pferd in Picassos Werk Guernica ein Sinnbild für das Leid des Krieges. Picassos Guernica entstand 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der spanischen Stadt Guernica durch die deutsche und italienische Luftwaffe, die während des Spanischen Bürgerkrieges auf Seiten Francisco Francos kämpften. Der Krieg hinterlässt Wunden.


Kaspers Arbeit ist eine Anklage an die Kriegstreiberei unserer Zeit. Sein Nashorn ist ein Kriegsopfer. Über ihm schweben Raketen, Drohnen, Jets, Kampfflugzeuge, nicht näher definierbare Flugobjekte – Raum-Schiffe, die den Lebensraum des Nashorns bedrohen und eine Konfliktsituation aufzeigen.

Kasper thematisiert – das Bild entstand Ende 2022/Anfang 2023 – die neue geopolitische Weltlage, die sich spätestens seit dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine im Februar 2022 herauskristallisiert. Eine vom Westen dominierte Weltordnung transformiert sich zu einer multipolaren Welt, in der sich ökonmisch, militärisch und ideologisch aufstrebende Staaten selbstbewusst vom Westen emanzipieren, aber auch seine Stabilität gefährden. Des Weiteren bedrohen die zunehmende Polarisierung in Politik und Gesellschaft die freiheitliche Demokratie der westlichen Staaten. Die Zersplitterung im Himmelszelt und das mühevoll zusammengeflickte Nashorn symbolisieren die weltpolitischen und innergesellschaftlichen Spaltungsprozesse im ersten Quartal des 21. Jahrhunderts.

Reimund Kaspers Werk "Nashorn" ist ein ästhetisch ergreifendes und zugleich erschütterndes Dokument postmoderner Fragmentierung und Instabilität.

Text: Timo Kasper, M.A.